Tolkiens Werk, die HoME, mit all ihren Erzählungen, Sprachen und nicht zuletzt den mannigfaltigen Verbindungen in die wirkliche Historie, sowie zu allgemein überlieferten Sagen und Mythen, stand für mich immer auf Augenhöhe mit Werken historischer Mythenschreiber, namentlich Homer oder Snorri.
Tolkiens Werk zeigt bis heute eine nicht zu unterschätzende Wirkung, die viel mit der mythologischen Grundlage unserer Gesellschaft zu tun hat. Ich glaube zwar nicht, dass er der Vater der „Fantasy“ als Literaturgattung ist, Autoren wie Jules Verne sind dem viel näher, aber ich denke, er ist ein wesentlicher Baustein zur Renaissance der Romantik, die uns neben modernen Öko-Religionen auch eine Verbundenheit mit dem nordeuropäischen Erbe bewahrt hat.
So wundert es mich nicht, dass in einer Zeit der Hochtechnologie ganze Generationen Sindarin oder Quenya lernen, fiktive Stammbäume durchsuchen und die Geologie des Hithaeglirs erforschen. Natürlich gibt es dadurch auch ein breites Sammelsurium an Trittbrettfahrern, sei es um mit filmischen Umsetzungen Geld zu verdienen, mehr Fan-Content unter die Leute zu bringen, oder indem sich im Schatten eine Vielzahl an Plagiaten und Eigenkreationen wie Unkraut zu etablieren versuchen.
Eine solche Kreation macht derzeit überall von sich Reden: Game of Thrones.
Ich weiß nicht, ob ich mich hier zu weit aus dem Fenster lehne, aber ich glaube, George Martin ist es erstmals gelungen, sich mit etwas vollkommen Eigenständigen in eine ähnliche Liga zu begeben. Beim ersten Lesen erschlägt einen das (noch unvollendete) Werk schier. Dabei sind es nicht nur die Handlungsstränge, die sich in bis dahin ungekannter Breite verästeln, ohne dabei an Relevanz zu verlieren, es sind auch die zahlreichen Verbindungen in die europäische Geschichte, mit Anspielungen von der griechischen Antike bis ins neuzeitliche England.
So eingebettet kann Game of Thrones zur Einstiegsdroge werden, indem man vom Roman aus die historischen Vorbilder entdeckt und so eine Brücke in die Kulturgeschichte betritt. Dies ist vor allem angesichts der aktuellen Diskussion um die Relevanz westlicher kultureller Identifikation höchst interessant.
Nicht wenige, die jegliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit als Anstößig und Ausgrenzend betrachten, gehen in der fiktiven Welt von Westeros nicht weniger auf, als andere in Tolkiens Mittelerde. Gerade die sozialen Netzwerke sind voll von Analysen, Theorien und Fachleuten, die sich in aufwändigen und langwierigen Arbeiten um Wissen auf Basis dieser Fiktionen bemühen.
Dabei kann man kaum bestreiten, dass beide, Tolkien wie Martin, eine zu tiefst europäische, genauer nordeuropäische Sagenwelt konzipiert haben und ganz offensichtlich spricht das auch heute insbesondere die junge Generation in großer Zahl an.
Dieser Befund mag hoffen lassen, doch wahrscheinlicher ist Folgendes:
Besonderen Glanz erhalten Dinge erst im Sterben. Die Rückschau, das Erkennen von Verlust, die Sehnsucht aus der Ferne, das alles hat weit mehr Faszination, als das Ursprüngliche. Warum auch immer – die Kopie liegt uns näher als das Original und darum werden wir die Brücke nicht betreten, die bereitet ist.