Der Konstruktion nach wäre die Burg niemals einzunehmen gewesen. Schon seit 15 Jahren wurde sie belagert, zeitweise mit mehr Engagement, zwischenzeitlich aber auch weniger aufdringlich, kaum spürbar für die Belagerten.
Trinkwasser konnte durch einen Brunnen gewonnen werden, versorgt wurde die Festung teils durch die Luft, aber auch der Schmuggel blühte, teils über Wasser, Grotten aber auch über Land, denn lückenlos war die Belagerung nicht durchzuführen.
So konnte sich mit der Zeit ein stabiles System entwickeln, es gab Wohlstand und Ablenkung, die Belagerung wurde von den meisten Bewohnern kaum wahrgenommen, teils gar als Gerücht angesehen.
Der Fürst mit seiner Familie hatte sich schrittweise mehr und mehr den Belagerern angedient. Er führte hohe Summen ab, erkaufte dadurch vermeintliche Freundschaft und Zusicherungen, so dass er mehr und mehr bereit gewesen wäre, die Burg ganz aufzugeben – noch aber waren oppositionelle Kräfte innerhalb der Festung stark genug, dies zu verhindern.
Die Trennung zwischen Burgherr und Belegschaft drückte sich mehr und mehr auch räumlich aus und die Herrscherfamilie bezog einen eigenen Trakt, strickt getrennt vom übrigen Gebäude. Der Größe nach vielleicht bis zu zehn Prozent, bildete sich eine Burg in der Burg, aus dem früheren Miteinander entstand ein immer ausgeprägteres Autoritätsverhältnis, geprägt von Misstrauen und Neid.
Die Belagerer sahen gerne zu und unterstützen jede aufkommende Zwietracht. Sie sprachen dem Herrscher Mut zu, ermunterten ihn zu strengeren Regeln und drakonischeren Maßnahmen, auf der anderen Seite wiesen sie die Belegschaft auf Ungerechtigkeiten hin, wie sie die Burgleitung vermehrt zeigte.
Auf diese Weise wuchs Unfrieden. Belegschaft gegen Herrschaft, aber auch unter der Belegschaft, in der viele doch das Tun der Burgherrenfamilie zu rechtfertigen suchten, gar als deren Augen und Ohren fungierten.
So kam es schließlich zu immer offeneren Auseinandersetzungen. Die einen sprachen von Umsturz, die anderen ersonnen immer neue Strategien der Unterdrückung. Eines Tages wurde von den Belagerern das Gerücht einer Seuche verbreitet, von der sie selbst befallen wären, die aber leicht auch auf die Festung überspringen könnte, woraufhin in der Burg, allerdings ausschließlich unter der Belegschaft, Panik ausbrach.
Der Fürst hingegen sah seine Chance gekommen. Er ließ verkünden, dass er Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung mit aller gebotenen Konsequenz durchführen lasse, dass die Gesundheit aller von nun an oberste Priorität habe. Dazu erließ er zuallererst eine Reihe an Verordnungen.
Bei der Belegschaft kam das gut an. Endlich stand der Burgherr auf ihrer Seite und setzte sich für sie ein. Die Bereitschaft, Einschränkungen zu akzeptieren, bis hin zum bedingungslosen Gehorsam, war groß. Freiwillig begab man sich ins Stubenarrest, man befolgte jede Anweisung penibel und achtete genaustens darauf, dass auch der Nachbar alles befolgte – denn nur gemeinsam, so war die einhellige Meinung, konnte man der Krankheit Herr werden.
Der Fürst hingegen ging es eher locker an. Er erkannte vor allem das Potential einer verängstigten und verstörten Belegschaft, die nun nach einer starken Führung verlangte, wo sie vorher mit Revolutionsgedanken gespielt hatte. Sein Bestreben war es also, die Sorge vor einer Erkrankung so weit wie möglich auszudehnen, am besten mit immer neuen Aspekten zu verlängern und so einen permanenten Zustand der Verängstigung herbeizuführen, durch den das Regieren ein leichtes bliebe.
Und so kam es. Immer neue Verordnungen, immer neue Maßnahmen, immer neue Bedrohungsszenarien. Hatte man ein Problem gelöst, kam das nächste. Welle um Welle breitete sich die Krankheit aus, Mutation folgte auf Mutation, immer neue Strategien der Isolierung und Medikation.
Doch langsam meldeten sich auch mehr und mehr Skeptiker. Waren ursprünglich alle überglücklich einen starken und entschlossenen Mitstreiter in ihrem Burgherren zu haben, so kamen immer häufiger Zweifel auf, die das entspannte Durchregieren störten. Der Graben zwischen Belegschaft und Burgherr, ebenso der Riss innerhalb der Gesellschaft wurde immer größer, es kam zu Handgreiflichkeiten, der Fürstentrakt wurde mehr und mehr verriegelt und glich immer stärker einer Festung innerhalb der Festung.
Die Belagerer hingegen rüsteten zur Siegesfeier. Nichts brauchten sie mehr zu tun. Sie genossen den Logenplatz und beobachteten, wie Aktivisten innerhalb der Festung Wände einrissen, wie sich die Belegschaft untereinander bekämpfte und die steigende Aggression ihren Lauf nahm. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Burg von innen her aufbräche, sei es aufgrund von Hunger, denn die Maßnahmen des Burgherren führten mittlerweile schon zu einer deutlichen Unterversorgung der Bewohner, sei es durch die Gewalt innerhalb der Mauern. So oder so, lange würde die Belagerung nicht mehr benötigen, die Burg stand bereit zur Übernahme.