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Er hatte einen gesunden kleinen Betrieb zu ansehnlicher Größe gebracht. Seit Jahren wuchs das kleine Imperium, wie er es scherzhaft nannte, um kontinuierliche zwanzig Prozent. Dass er dieses stetige Wachstum vor allem seinen treuen Kunden zu verdanken hatte, ausgehend von den begeisterten Kindern bis hin zu den Eltern, die sie später einmal werden würden und die ihre Freude dann wiederum mit ihren Kindern teilen würden, blieb ihm stets bewusst.
Noch immer war sein Baukasten, an dem er nun seit zwei Generationen feilte, eher eine Nische im Markt. Mit seinen Metall- und Holzkonstruktionen, die zum Großteil miteinander verschraubt wurden, konnte man flexibel alle Arten von technischen Geräten bauen, vom Getriebe über Fahrzeuge, die einen optimalen Einblick in ihre großen Vorbilder gaben über Jahrmarktattraktionen wie Riesenräder, Achterbahnen und jegliche Art von Schaukeln oder Rundfahrgeschäften. Besonders stolz war er, wenn er erfuhr, dass sein kleiner Baukasten in Konstruktionsbüros zur Erstellung von Prototypen aller Art verwendet wurde und er so seine Fähigkeiten weit über die Kinderzimmer hinaus unter beweis stellen konnte.
Unter den Spielzeugherstellern war er, das war ihm sehr wichtig, der nachhaltigste. Er achtete auf gute Verarbeitung, wenig Plastik in Bauteilen und Verpackung sowie auf die Wiederverwertbarkeit der Bausteine. Ein Modell sollte, wenn es fertig, ist nicht im Regal stehen oder als Musemussstück aufgehoben werden, sondern für neue Projekte verwendbar sein. Selbst die allerersten Baukästen können noch heute in all ihren Bestandteilen mit aktuellen Systemen kombiniert werden.
Doch nicht nur die Kundschaft und seine Produkte lagen ihm am Herzen, auch die Mitarbeiter verlor er nicht aus den Augen, denn ihre Motivation, ihre Kreativität bildeten das Herz der Firma. Der Betrieb hatte mittlerweile über dreihundert Angestellte, die er wie eine erweiterte Familie betrachtete. Er hatte noch ein jeden selbst eingestellt, wusste über Herkunft und Interessen Bescheid und war gern auf dem Gang, beim Kaffee oder in der Kantine zum Gespräch bereit. Die Menschen sollten gern zur Arbeit kommen und nicht weniger Freude am Werken haben, wie er selbst und letztlich seine Kunden.
Dennoch nagte auch an ihm der Zahn der Zeit und so begann er sich Gedanken um den Fortbestand des Unternehmens nach ihm zu machen. Eine wirkliche Familie hatte er nicht und auch im familiären Umfeld sah er niemanden, der Interesse gehabt hätte, in seine Fußstapfen zu treten. Nicht dass es nicht genügend anderweitige Interessenten gegeben hätte, aber er wollte sicher sein, dass ein eventueller Nachfolger nicht nur ihm einen komfortablen Ruhestand ermögliche, sondern dass seine kleine Welt, sein Baukasten mit all den Ideen und Menschen, die ihn über all die Jahre getragen hatten, Bestand hätten.
Ein Nachfolger sollte Freude am kreativen Gestalten haben. Er sollte ein Herz für seine Kundschaft haben, vor allem für die vielen Kinder, in deren Sinne er eine bestmögliche Entwicklungsumgebung zu schaffen bereit sei, die spielerisch in immer neue Welten einführe und schon die Jüngsten optimal auf all die neuen Herausforderungen vorbereite, die moderne Technik bietet. Er suchte jemanden mit Enthusiasmus, Neugier und Güte, einen Nachfolger, der nicht den bequemsten Weg der Gewinnmaximierung anstrebt, sondern weiterhin auf Innovation und Kundennähe setzt.
Doch das zu finden, war schwer. Agenturen, die ihm den Wert des Unternehmens aufrechneten (als ob er diesen nicht selbst gekannt hätte), die ihm von wilden Expansionsträumen rund um den Globus vorschwärmten, Investoren mit großen Plänen und „rundum-sorglos-Paketen“, die ihn von allen Mühen und Sorgen zu entbinden vorgaben, gab es genug. Hat man es nach langer Jahre Arbeit geschafft, ein solides Unternehmen zu etablieren, ist man erfolgreich über all die Hürden gelangt, die einem das Leben zu bieten hatte, dann kommen sie in Scharen, die Helfer, die man früher gut hätte brauchen können, die Investoren und Kapitalgeber, die immer erst dann kommen, wenn sie im Grunde nicht mehr gebraucht werden.
Doch so gar nicht gebraucht wurden sie eben doch auch nicht. Irgendjemand musste die Idee doch weitertragen. Es wäre schön, zu sehen wie auch künftige Generationen noch Freude an seinem Baukastensystem haben und nicht zuletzt fühlte er sich den vielen Angestellten mit ihren Familien gegenüber verpflichtet. Es musste also eine Lösung her und wenn es vielleicht auch nicht die beste war, so konnte er doch hoffen, unter den zahlreichen Möglichkeiten eine einigermaßen passende zu finden.
Und eines Tages war es dann so weit. Und es sah gar nicht so schlecht aus. Das solide Wachstum von jährlich zwanzig Prozent, die mittlerweile über Generationen eingeschworene Kundschaft mit ihrer starken und lebendigen Community und das sowohl traditionelle als auch moderne Konzept fand Anklang bei einem Investor, dessen Schwerpunkt auf nachhaltigem Wachstum auf Basis werthaltiger Produkte lag und der ein sowohl menschlich als auch finanziell überzeugendes Konzept vorgelegt hatte.
Der Rest ist schnell erzählt. Mit dem Investor kam eine neue Geschäftsleitung. Junge, motivierte und moderne Manager mit besten Referenzen, jeder Menge Ideen aus dem BWL- und Wirtschaftsstudium, die nicht alleine die Finanzen im Blick hatten, sonder aus der eigenen Historie heraus eng mit der Spielwarenbranche verbunden waren. Auch sie waren mit einem Baukastensystem aufgewachsen und vertraut, wenn auch nicht dem hiesigen, aber immerhin mit einem der großen und bekannten Klemmbausteinhersteller.
Mit diesem Wissen gingen sie ans Werk. Recht bald schon erkannten sie das Potential des für sie neuen Systems und sie fragten sich, warum, verglichen mit dem Klemmbausteinhersteller, die Kundenzahlen marginal wirkten. Sie erstellten Analysen über neue Absatzmärkte, über die Optimierung der Margen und über die Erwartungshaltung neuer Zielgruppen.
Das Ergebnis war ernüchternd. Der Baukasten war schon recht gut, auch hatte er einige Alleinstellungsmerkmale, aber er war zu teuer in der Herstellung. Metall und Holz waren nicht die handlichsten Materialien und zudem sahen die allzu technischen Modelle gerade für Kinder oft zu abstrakt und kompliziert aus. An den Fahrzeugmodellen fehlten die Karosserien, es gab zu wenig Farben und gerade für Mädchen gab es nicht genügend Anreize, denn hinter all den technischen Finessen fehlten soziale Komponenten, wo Kinder mit Figuren Situationen aus dem Alltagsleben nachbauen könnten, um auch das gesellschaftliche Miteinander stärker zu betonen.
Kurz – der Baukasten war schwerfällig und teuer in der Herstellung. Klemmbaukästen erreichten ein deutlich größeres Publikum, da man von Pflanzen über Tiere bis hin zum Nachstellen von Filmszenen aus bekannten Franchises deren Fans gezielt ansprechen könne. Und so begann der Umbau.
Es wurden neue Farben eingeführt, Verkleidungen sollten die anspruchsvoll wirkenden technischen Elemente verdecken und immer mehr Bauteile wurden nun günstig aus chinesischem Kunststoff hergestellt. Zusätzlich zu Einsparungen im Einkauf wurden auch die Preismodelle überarbeitet. Es gab jetzt Leasingverträge für hundertfünfzig Euro im Jahr, mit denen Kunden einmal im Quartal einen exklusiv nur über das Abo erhältlichen Baukasten zugeschickt bekamen. Natürlich könnte man sich die Bauteile der Kästen auch einzeln kaufen, dann aber käme man aber für einen Kasten auf etwa neunzig Euro.
Die Kunden nahmen es gemischt auf. Viele alte Stammkunden wandten sich ab, natürlich blieben aber auch viele allein schon aus Nostalgie der Traditionsmarke treu. Es gab sogar auch Neukunden, doch blieb die Entwicklung weit hinter den Erwartungen zurück. Woran das lag, konnte sich niemand erklären. Die neuen Modelle waren doch viel farbiger und thematisch deutlich breiter ausgelegt als der alte eher unhandliche Fokus auf technologische Details.
Wie auch immer – erst stagnierte das Wachstum, dann ging es sogar leicht zurück. „Es war eben doch ein weit überschätztes Produkt“ hieß es aus Kreisen der neuen Geschäftsleitung, die sich mit Klemmbausteinen immer wohler gefühlt hatte.
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