Ghostwriter für den Papst

Vor einiger Zeit gab es einen Wettbewerb quasi als Ghostwriter für den Papst dessen Rede für den Bundestag vorzubereiten. Im Folgenden mein Vorschlag:

 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich heute vor Ihnen sprechen zu dürfen und bedanke mich herzlich für diese besondere Gelegenheit. Mir ist bewusst, dass Ihre Einladung auch kritisch gesehen wird, da für viele die Trennung von Kirche und Staat eine Herzensangelegenheit darstellt. Aus diesem Grund wende ich mich in meiner Ansprache nicht als Staatsoberhaupt des Vatikans an Sie, sondern als einfacher Erdenbürger. Wir Menschen sind eingebunden in vielfältige Gesellschaftsstrukturen, angefangen mit der Familie, über Gruppen und Vereine, bis hin zu Nationen und Parteien. Dabei übertragen wir die Erfahrungen aus unterschiedlichen Bereichen und lassen sie so für das gesamte Gemeinwesen fruchtbar werden. Öffentliches und Privates, Weltliches und Religiöses ist auf diese Weise immer eng miteinander verbunden.

In diesem Sinne möchte ich Ihnen meinen tiefempfundenen Dank ausdrücken, für Ihr Wirken im politischen Dienst und Ihr Engagement zum Wohle der Ihnen anvertrauten Menschen. Das aktive Gestalten von Perspektiven für ein ganzes Volk stellt eine große Herausforderung dar. Dabei geht es nicht nur darum, Wünsche und Ziele der Mehrheit umzusetzen, sondern einen verantwortungsvollen Weg für unsere Nachkommen einzuschlagen. Gerade für zukünftige Generationen müssen Entscheidungen auf langfristige Folgen hin abgewogen werden, ohne die Erfordernisse der Gegenwart zu vernachlässigen.

Zudem erfordern kulturelle, technische und wirtschaftliche Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene oft kurzfristige Reaktionen von großer Tragweite. Das Wohl und Wehe ganzer Völker, wie wir es derzeit beispielsweise in Nordafrika erleben, hängt von politischem Handeln ab. Entscheidungen, die Sie hier in diesem Hause treffen, gestalten eine konkrete Wirklichkeit für Menschen überall auf der Welt. Nicht zuletzt darum ist es wichtig, die eigenen Überzeugungen regelmäßig in den Blick zu nehmen und sorgfältig zu prüfen.

Diesbezüglich möchte ich die Gelegenheit nutzen, über die oft zitierten „christlichen Werte“ als Fundament zu sprechen.

Natürlich stellt sich dabei zuerst die Frage, warum wir uns überhaupt speziell auf „christliche Werte“ beziehen sollten. Wären nicht allgemeine Normen sinnvoller? Verfügen wir nicht mit den Menschenrechten über ein Instrumentarium, das den Anweisungen einer jahrtausendealten Schrift weit überlegen ist? Ist es in einer Zeit, in der mehr und mehr Menschen Abstand vom christlichen Glauben nehmen, angemessen, für Regeln gerade dieser Religion zu plädieren? Wenn wir aber dennoch eine religiöse Moral in Betracht ziehen, warum dann nicht die des Islams oder der Lehren des Fernen Ostens?

Derartige Fragen sind sehr berechtigt und nicht selten das Ergebnis ernsthafter Überlegungen und jahrelanger Erfahrungen. Sie alle drücken die Sorge um eine tragfähige Entscheidungsgrundlage für eine verantwortungsvolle Politik aus. Es wäre fahrlässig, sie einfach zu ignorieren, diesbezüglich erschöpfende Antworten geben zu wollen wäre jedoch ein allzu kühnes Unterfangen. Ich werde mich deshalb vor allem auf die Darstellung der Eckpunkte christlicher Ethik konzentrieren und weitere Ansätze im Rahmen von Erläuterungen mit einbeziehen.

Entscheidungen von großer Tragweite erfordern oft außergewöhnliches diplomatisches Geschick. Dabei fällt die Frage nach der Richtigkeit einer Aktion leicht hinter praktischen Erwägungen zurück. Das Abwägen unterschiedlicher Interessen und Notwendigkeiten lässt uns vorrangig nach gangbaren Kompromissen suchen, nach Lösungen, die akzeptabel sind für alle Beteiligten. Ändern sich die Bedingungen, muss oft schon nach kurzer Zeit neu verhandelt werden. Technische Entwicklungen, sowie soziale und wirtschaftliche Verhältnisse, stellen uns ebenso schnell vor neue Herausforderungen wie das regelmäßige Wechseln der Ansprechpartner in demokratisch gewählten Regierungen.

Im Gegensatz zu der Verpflichtung, ständig neue Wege für Gesetze und politische Entscheidungen zu suchen, schreibt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten;“ [Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Band VII, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, S. 13.]

Die Mahnung Kants, moralische Gesetze erhielten ihre Legitimation nicht per Konvention, sondern trügen ihre Verbindlichkeit in sich, geht leicht neben praktischen Erwägungen unter. Dabei spricht diese Erkenntnis der Diplomatie keineswegs die Berechtigung ab, sie fügt nur den von vornherein schon schwierigen Verhandlungen eine weitere anspruchsvolle Komponente hinzu: Ein gangbarer Kompromiss benötigt demnach ein Ergebnis, dass nicht bloß praktikabel ist, sondern in einem allgemeinen Sinn moralischen Ansprüchen genügt.

Dies deckt sich grundsätzlich auch mit der christlichen Auffassung von Moral. Ethische Wertigkeiten liegen ihr zufolge in der Liebe Gottes begründet und beziehen von dort Autorität. Ob eine Handlung oder ein Gesetz als gut zu bewerten ist, kann darum nicht politisch entschieden werden. Weder Abstimmungen noch funktionale Zweckmäßigkeiten definieren eine allgemeine Gültigkeit von Normen, die bedenkenlos und in voller Tragweite auf ganze Gesellschaften anwendbar wären. Der Maßstab unseres Handelns muss sich außerhalb des menschlichen Bezugsystems befinden, um nicht am Ende als Spielball divergierender Interessen in Beliebigkeit zu versinken.

Selbst wenn wir die Quelle christlicher Werteorientierung jenseits unserer Erfahrungswelt verorten, bleibt deren Objekt immer der Mensch. Zuerst sollten wir uns darum Gedanken zu seiner näheren Bestimmung machen. Einen guten Hinweis diesbezüglich liefert Artikel 1, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Was aber bedeutet „Würde“, dass sie in ganz besonderer Weise durch den Staat zu schützen ist, gar für unantastbar erklärt wird und pauschal jedem Zugriff entzogen ist?

Dem Menschen wird durch sie etwas Absolutes, über ihn Hinausweisendes, zugesprochen. Damit offenbart die deutsche Verfassung einen engen inneren Bezug zur christlichen Ethik. Sie sieht uns nicht nur als komplexe funktionale Wesen, sondern als Ebenbilder unseres Schöpfers. Die Würde bedingt dabei unsere Fähigkeit, allgemeine Werte in den Blick zu nehmen und nicht allein in weltlichen Kategorien zu denken.

Äußerst folgenschwer ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob Würde dem Menschen grundsätzlich zukommt, oder ob er sie erwerben und gegebenenfalls auch verlieren kann. Dies ist nicht nur in Bezug auf Beginn und Ende der persönlichen Existenz relevant, sondern auch für eine etwaige Rechtfertigung harter Strafen bei schweren Verfehlungen. Wohl am deutlichsten zeigt sich das am Recht auf Leben, das nur durch Würde vorbehaltlos garantiert wird. Fiele sie weg, könnte der Mensch in all seinen Lebensphasen dem Nutzenprinzip untergeordnet werden. Der Status jedes Einzelnen hinge davon ab, wie weit er gesellschaftlich Verwendung fände.

Es braucht nur wenig Phantasie, um sich derartige Szenarien vorzustellen. Die aktuellen Diskussionen zu Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik oder Euthanasie sind Ihnen allen zur Genüge bekannt. Geht man von einem christlichen Wertesystem aus, steht man hier auf festem Fundament: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie entzieht sich jeglicher Vereinnahmung, sie kann weder verliehen noch genommen werden, sie ist untrennbarer Bestandteil unserer Person. Nimmt man diesen Gedanken ernst, ergeben sich konkrete christliche Werte in Bezug auf unser Leben ganz von selbst.

Neben dem konsequenten Respekt vor der Würde eines jeden Menschen liegt mir ein weiterer Grundsatz verantwortungsvoller Politik ganz besonders am Herzen: das Subsidiaritätsprinzip. Im Hinblick auf die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts wurde diese Lehre von Papst Pius XI in der Enzyklika “Quadragesimo anno“ folgendermaßen ausformuliert:

„… wie das, was von einzelnen Menschen auf eigene Faust und in eigener Tätigkeit vollbracht werden kann, diesen nicht entrissen und der Gemeinschaft übertragen werden darf, so ist es ein Unrecht und zugleich ein schwerer Schaden und eine Störung der rechten Ordnung, das auf eine größere und höhere Gemeinschaft zu übertragen, was von kleineren und niedrigeren Gemeinschaften erreicht und geleistet werden kann; denn jede gesellschaftliche Tätigkeit muß ihrem Wesen und ihrer Natur nach den Gliedern des gesellschaftlichen Leibes Unterstützung leisten, darf sie aber niemals zerstören und aufsaugen. ….

Deshalb sollen die Machthaber davon überzeugt sein: je vollkommener durch die Beachtung dieses Prinzips des ‚subsidiären‘ Handelns die hierarchische Ordnung unter den verschiedenen Gemeinschaften blüht, desto hervorragender wird die soziale Autorität und Wirksamkeit und desto glücklicher und erfreulicher der Zustand des Gemeinwesens sein.“ [Zitiert nach Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 3738]

Das Subsidiaritätsprinzip setzt bei einer Erfahrung aus dem politischen Leben an. Große Pläne scheitern oft selbst unter besten Bedingungen und höchstem Einsatz, ohne dass ein konkreter Grund dafür ersichtlich wäre. Die Komplexität und Vielfalt, mit der wir bei Entscheidungen konfrontiert sind, übersteigt unsere Fähigkeit, für alle Eventualitäten sichere Lösungen zu finden. Als erster Ausweg mag hier ein Blick in die Geschichte dienen. Dort gibt es eine Fülle an Ideologien, die eine perfekte Welt versprechen, vom Pelagianismus bis hin zu modernen sozialistischen Lehren. Besonders reizvoll klingt dabei die gemeinsame Grundannahme, allein durch Einhaltung eines anspruchsvollen Regelwerkes entwickle sich die allgemeine Gesundung von selbst. Ein Scheitern kann so leicht auf Übertretungen Einzelner, oder unliebsamer Gruppen, zurückgeführt werden, was dann gleich den Ruf nach einem starken Staat zur Folge hat.

Die alltägliche Beobachtung des Weltgeschehens legt allerdings eine andere Einsicht nahe. Kein von Menschen ersonnenes Gesetz ist perfekt, woran auch eine buchstabengetreue Befolgung nichts ändert. Weder ein Katalog von Normen, noch eine auf den Verstand begründete Handlungsmaxime kann allen Eventualitäten menschlichen Zusammenlebens gewachsen sein. Ein „von oben“ verordnetes Prinzip wirkt schnell einengend und lässt der persönlichen Entfaltung nur wenig Raum. Subsidiäre Strukturen hingegen bieten demgegenüber geradezu befreiende Alternativen. Hier greift eine übergeordnete Instanz nur dann ein, wenn Aufgaben ansonsten nicht mehr bewältigt werden können. Praktisch sehen wir so etwas im Föderalismus, wo Länder innerhalb eines Verbundes größtmögliche Unabhängigkeit besitzen. Sinnvolle Anwendungen sind aber auch in vielen anderen Bereichen möglich.

Besonders wichtig ist in diesem Sinne die Familie, sie ist Basis und Zukunft aller gesellschaftlichen Strukturen. Unser Staat bedarf der engen Bindung von Eltern und Kindern als Keimzelle. In diesem geschützten Raum kommt es zu ersten zwischenmenschlichen Kontakten, zur Erfahrung von Liebe und Vertrauen, wodurch Weichen für eine gelungene persönliche Entwicklung gestellt werden. Ein Eingriff darf dort nur mit allergrößter Vorsicht und mit Rücksicht auf die Würde eines jeden einzelnen Familienmitgliedes geschehen. So wäre es beispielsweise für die Schulpolitik angemessen, die dortige Wissensvermittlung vor allem als Ergänzung und nicht als Ersatz für das Elternhaus anzusehen. Konkurrierende oder gar diktierende Ansprüche stehen einem lebendigen, robusten Gemeinwesen, in dem verschiedene Parteien, Vereine und Gruppierungen ihre speziellen Fähigkeiten effektiv einsetzen können, entgegen. Abstufungen hingegen, in denen untergeordnete Instanzen einen größtmöglichen Freiraum erhalten und übergeordnete Strukturen nur im Bedarfsfall eingreifen, entsprechen der Idee von Vielfalt in Einheit. Sie schaffen für die Entfaltung menschlicher Persönlichkeit den Raum und helfen im gemeinsamen Streben nach Vervollkommnung.

Als Politiker werden Sie vielleicht erst einmal die Einschränkungen wahrnehmen, die das Subsidiaritätsprinzip Ihrem Handlungsspielraum auferlegt. Es ist ja Ihre Aufgabe als gewählter Volksvertreter, für das Gelingen des gesamten Gemeinwesens zu sorgen. Sie tragen dabei nicht nur für das deutsche Volk Verantwortung, sondern für Menschen in der ganzen Welt. Wie sollte man es da vertreten können, gerade bei drängenden Anliegen im sozialen, im wirtschaftlichen oder generell im ethischen Bereich zurückzutreten und wichtige Gestaltungsmöglichkeiten abzugeben? Ist dann ein effizientes Arbeiten überhaupt noch möglich, werden Sie sich vielleicht fragen.

Dabei darf man nicht übersehen, dass all unserem Schaffen schon von Natur aus Grenzen gesetzt sind, bei deren Überwindung wir die Hilfe anderer benötigen. Eine gesunde Gesellschaft delegiert schwierige Aufgaben zur gemeinsamen Bewältigung. Das geschieht um so leichter, wenn zwischen den hierarchischen Ebenen ein Klima des Vertrauens und des gegenseitigen Respekts herrscht. Im Grunde wissen wir, dass das Geschick aller nicht allein von uns abhängt. Unser Einfluss endet sowohl an der uns übergeordneten Wirklichkeit als auch an der freien Selbstbestimmung jedes Mitmenschen. Als Christen, die wir an den menschgewordenen Sohn Gottes glauben, sind wir in besonderer Weise an diese Grenzen erinnert. Als schwache Menschen wissen wir uns durch Christus getragen und erfahren gleichzeitig ein höchstes Maß an Freiheit in der Zuwendung und Liebe Gottes.

Hier sind wir im Herzen jener Ethik angelangt, die wir so gern mit dem Begriff der „christlichen Werte“ umschreiben. Wir verstehen, warum man zwar auch ohne Glauben über anspruchsvolle ethische Grundsätze verfügen kann, diese dann aber mehr den Verstand und weniger das Herz berühren. Persönlicher Glaube begründet Vertrauen und Zuversicht, er überbietet das Prinzip, alles einem Nutzen unterzuordnen und eröffnet das Gespür für Unverfügbares: für Achtung, Respekt und Würde. Tief empfunden kann er so über schwere Situationen helfen, und versetzt in die Lage, falls nötig auch Opfer zu bringen. Reines Einfordern von Werten auf einer Basis, an die man selbst nicht glaubt, steht dazu im Gegensatz und bleibt auch mit besten Absichten letztlich erfolglos.

Ich möchte Sie heute einladen, sich die Grundlagen Ihres eigenen Glaubens einmal deutlich vor Augen zu führen. Um fruchtbar in der Welt zu wirken, benötigen wir einen Standpunkt, über den wir uns und anderen Rechenschaft geben können. Eine Politik der Nachhaltigkeit erfordert dabei auch, manchmal für unpopuläre Werte einzutreten und sich im Dienste eines Größeren zurückzunehmen. Ich wünsche Ihnen Mut und Kraft, ganz im Sinne von Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes das Wohl der Menschen mit Gottes Segen zu erwirken.

Thod Verfasst von:

Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.