Feigheit

Wenn der Regen gleichmäßig ans Fenster schlägt, der wolkenverhangene Himmel die Welt in farbloses und graues Licht hüllt, ist kaum jemand in Versuchung, die trockene und warme Stube zu verlassen, sein Buch beiseite zu legen, den Fernseher auszuschalten oder die Spielekonsole wegzuräumen.

Trotz modernster Outdoor-Kleidung lieben nur wenige die kalten spitzen Tropfen auf Gesicht und Stirn, die kleinen Bächen gleich die Wangen herunterlaufen und sich ihren Weg unterhalb des Kragens zum Nacken bahnen, ganz zu schweigen vom Reiben nasser Füße an Socken in durchweichten Schuhen, die sich nur zögernd der Körpertemperatur annähern.

Wer bescheiden ist, beschwert sich über das Wetter, lässt Kollegen und Freunde an der übergroßen Ungerechtigkeit teilhaben, die einen um die verdienten Sonnenstrahlen gebracht hat. Wer weniger egoistisch dastehen will, macht aus dem eigenen Problem ein Thema für alle und redet hochwissenschaftlich vom Klima.

So verweichlicht wir auf der einen Seite sind, so verwegen sind wir auf der anderen. Filme und Fernsehserien müssen vor Blut nur so triefen, täglich werden wir mit noch realistischeren Todesdarstellungen in Ton und Bild konfrontiert und nicht wenige ergreift die Sehnsucht, aus dem Sessel aufzuspringen, sich dem elenden Flüchtlingstreck auf dem Bildschirm anzuschließen und mit eigenen Händen auf der Seite des Guten zu kämpfen ? allein zum Gang ans Fenster fehlt die Kraft.

Heute muss selbst unser Chaos eine Ordnung haben. Die ungebändigten Kräfte werden im Fitnessstudio oder auf genau durchgeplanten Events maßvoll aufgearbeitet und zurechtgestutzt, nichts ist dem Zufall überlassen, technische und organisierte Unterstützung begleitet alle Schritte, vom banalsten Spiel  bis zum modernen und humanen Krieg hat alles seine feste Ordnung.

Dass anderswo auf der Welt Menschen einander völlig konventionslos abschlachten, dass unsre blutigsten Filme die Realität nicht einzuholen vermögen, passt schon lange nicht mehr  in unsere ästhetisch ausgefeilte, den Regen schon extrem empfindende Welt.

Ich möchte mir nicht vorstellen, wie wir uns verhalten werden, wenn demnächst das Schlachten vor der eigenen Haustüre stattfindet, wenn wir keine distanzierten Zuschauer mehr sind und die wohlig warme Traumwelt einmal wieder, dieses Mal für unsere Zivilisation, zerplatzt.

Thod Verfasst von:

Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.