Von der Freude am Menschen

Ein neues Leben ist immer etwas Wundervolles.

Vom ersten Augenblick an, sobald es sich bemerkbar macht, begleiten wir es mit Freude aber auch mit Bangen.

Ist schon etwas auf dem Ultraschall zu sehen? Schlägt das Herz schon? Wächst und gedeiht es? Kann man es schon spüren?

Was für einen Charakter wird es entwickeln? Welche Fähigkeiten und Neigungen wird es entfalten?

Werden wir es gut vorbereiten können, auf die raue Welt? Werden wir es heil und gesund durch die Wirren der Jugend geleiten können?

Natürlich werden auch die empfohlenen Voruntersuchungen nicht ausgelassen. Man will schließlich möglichst viel und möglichst früh über den Nachwuchs erfahren.

Dass dabei hin und wieder auch Probleme sichtbar werden, war uns durchaus bewusst, aber das war fern. Es schien sehr abstrakt. So etwas gibt es nur bei anderen Leuten.

Nicht so dieses Mal. Die Ärztin druckste erstaunlich lange herum, murmelte etwas darüber, dass das Herz völlig gesund sei, was den Verdacht aufkommen ließ, dass anderes nicht so ganz in Ordnung ist. War es dann auch nicht. Die Ventrikel im Gehirn, Hohlräume, die mit Flüssigkeit gefüllt sind, waren deutlich vergrößert.

Das Kind würde ganz sicher mit einer Behinderung auf die Welt kommen, welchen Umfang sie habe, dazu könne man noch keine Aussagen machen. Untypisch sei, dass abgesehen von der Abweichung im Gehirn kein weiteres Organ betroffen sei. Einerseits war zumindest das ein erfreulicher Befund, andererseits konnte er aber über die Ungewissheit nicht hinweg täuschen.

Es dauerte lange Wochen, bis wir auf einem 3D-Ultraschall-Bild einen ersten Eindruck vom Gesicht erhalten konnten. Ein wundervolles kleines Mädchen, von dem wir kaum eine Ahnung hatten, wie viel Freude es mit auf die Welt bringen würde.

Vorerst aber dominierte das Bangen um die Kleine. Sie bewegte sich kaum, schließlich vermehrte sich das Fruchtwasser so stark, dass der Verdacht aufkam, es gäbe ein Problem beim Schlucken und schließlich kam es zu einer verfrühten Geburt mit verkürzter Nabelschnur, anschließender Reanimation und Intensivbetreuung. 

Wohl um uns die wenigen Tage ihres vermutlich sehr kurzen Lebens in den Armen der Familie zu gönnen, wurde sie schon recht bald aus dem Krankenhaus entlassen.

Nun lebt sie bereits drei Jahre unter uns und ist nicht mehr wegzudenken. Ein Sonnenschein, immer gut gelaunt und in ihrer Lebensfreude ansteckend.

Medizinischer und Kultureller Hintergrund

Wir haben, das soll an dieser Stelle auch einmal ausdrücklich erwähnt werden, sowohl mit der ärztlichen Betreuung, mit der Krankenkasse und in unserem gesamten Umfeld das große Glück, bestens unterstützt zu werden.

Zwar gab es im Privaten schon auch kritische Anfragen, ob wir es uns denn wirklich gut überlegt hätten, das Kind anzunehmen, aber diese Stimmen sind längst verstummt. 

Von institutioneller Seite aus war man vorsichtiger, weil natürlich immer auch die Angst im Raume steht, dass man eventuell haftbar gemacht werden kann, wenn man nicht auf alles hingewiesen hat.

Da wir uns von Anfang an konsequent für das Kind entschieden haben und das auch deutlich kommuniziert haben, wurde nirgendwo weiter nachgefragt. Ich hatte auch häufig den Eindruck, dass man sich über unsere Entscheidung freut, denn das scheint mittlerweile nicht mehr die Regel zu sein. 

Die Widersprüchlichkeit moderner Ethik gibt hier zu denken. Auf der einen Seite wird kaum jemand Mediziner, um dem ungeborenen Leben vorzeitig ein Ende zu bereiten, im Gegenteil kommt hier zu der Freude am Menschen, an seiner Entwicklung und den Möglichkeiten der Heilung auch ein wissenschaftliches Interesse hinzu. Ein Fall wie der unsere ist selten und damit natürlich auch wichtig für Studium und Lehre. 

So konnten durch die moderne Technik heute Chancen auf ein unbeschwertes Leben erreicht werden, auch für Menschen, die bis vor kurzem noch gar keine Chance gehabt hätten, allein die Strapazen der Geburt zu überstehen. Doch bleibt es nicht beim bloßen Überleben. In guten Händen können heute Menschen trotz schwerster Behinderungen zu aktiven und selbstbestimmten Mitgliedern der Gesellschaft werden.

Auf der anderen Seite ist die Bereitschaft groß, schon bei kleinsten Anomalien, die durch eine vorgeburtliche Untersuchung festgestellt werden können, dem jungen Leben ein frühes Ende zu setzen. 

Die Vorstellung, durch Abtreibung Leid zu lindern, scheint gerade in dieser Hinsicht absurd und spiegelt mehr die Unsicherheit und Überforderung der Eltern wieder, als die Bedürfnisse des Kindes. Hier würde ich mir mehr Unterstützung wünschen, statt darüber zu diskutieren, ob man nicht noch effektivere Tests durchführen könne, um etwaige Schäden früher zu erkennen. 


Neben dem unsäglichen Leid, den zahllosen vertanen Chancen, der Vernichtung unerschöpflichen Potentials, führt die Ablehnung besonderer Menschen auch dazu, dass wir weniger Erfahrungen machen können und über weniger Anschauung verfügen, was den Menschen ausmacht. 

So erstaunlich es ist, was die Medizintechnik bereits hervorgebracht hat, so kommen einem Berichte über Hirnforschung und Genetik doch oft sehr realitätsfern vor, wenn man auf der anderen Seite sieht, was man über eine Erkrankung wie die unserer Kleinen tatsächlich sagen kann. 

Der Ultraschall brachte recht früh eine ganze Reihe an Fehlbildungen des Gehirns ans Licht. Das Kleinhirn war zu klein, die Faltung nicht normal ausgeprägt, Verbindungen und Trennung der Hirnhälften folgten einem ganz eigenen Bauplan und in den vorderen Ventrikeln staute sich Hirnflüssigkeit, die recht bald nach der Geburt durch einen sogenannten Shunt abgeleitet werden mussten.

Dabei handelt es sich um einen Schlauch, der durch die Schädeldecke ins Gehirn geführt wird und von dort unter der Haut, hinter dem Ohr gibt es ein kleines Ventil, bis in den Bauchraum geführt wird. So wird verhindert, dass ein Überdruck im Gehirn zum Tod führen kann.

Dass ein Gehirn mit diesem außergewöhnlichen Bauplan überhaupt funktionieren kann, verwunderte auch die Fachleute. In Summe scheinen die Anomalien derart selten zu sein, dass sich niemand bereit erklärte, etwas über die Grenzen und Möglichkeiten der Entwicklung zu sagen. Es schien so, dass man sich vor allem überhaupt wunderte, dass das Mädel lebt und noch dazu erstaunliche Fortschritte macht.

Dass man trotz moderner Analysetechniken wie dem MRT nicht in der Lage ist, funktionierende und defekte Gehirnregionen in Bezug auf ihr Potential hin zu benennen, hat uns schon verwundert. Liest man Artikel in den Medien über Hirnforschung, so gewinnt man leicht den Eindruck, dass mittlerweile alles vermessen und ausgelotet ist, dass der Bauplan des Gehirns derart bekannt ist, dass Forscher schon vor einem Nachbau stehen. Tatsächlich scheint bis dahin aber noch ein weiter Weg.

Ebenso sieht es bei den Ursachen aus. Wir haben dazu eine Genanalyse anfertigen lassen, einerseits in der Hoffnung so mehr über Chancen und Möglichkeiten der Unterstützung zu erfahren, aber auch, um herauszufinden, ob nicht vielleicht ein vererbter Schaden vorliegt. Dies war jedoch nicht der Fall.

Die Analyse zeigt eine sogenannte Deletion im Chromosom 13. Es fehlt ein großer Abschnitt, der das gesamte 32er Band umfasst. Auch hier konnte man uns anhand des Befundes nicht sagen, was das bedeutet, denn zwar ist das menschliche Genom entschlüsselt, aber das heißt noch lange nicht, dass man über alle Bereiche der DNA funktional Bescheid weiß. Was in keiner Gendatenbank beschrieben ist, gleicht einer Blackbox und so bringt unser Baby ein auch hier ein wenig Licht ins Dunkel, denn durch die beobachteten Hirnfehlbildungen hat man nun eine fundierte Idee, wozu der fehlende Bereich im Genom zuständig ist. 

Man vermutet, dass der Abschnitt bei der Bildung des Gehirns quasi als Bauplan kurzzeitig abgerufen wird und ansonsten keine weitere Rolle spielt. Das würde das die Veränderungen erklären und zugleich einen Hinweis geben, warum nichts anderes betroffen scheint.

Auch hier waren wir also ein wenig ernüchtert. Wissenschaft scheint noch immer von Beobachtung und Messergebnissen abzuhängen und wenn etwas auftritt, was noch nicht erfasst wurde, dann tappt man weitestgehend im Dunkel. 

Was man bisher zur Entwicklung sagen kann, ist, dass bei der Kleinen alles etwas mehr Zeit braucht. Mit ihren jetzt drei Jahren lernt sie langsam selbständiges Stehen und spricht die ersten Worte. Ihr Weltverständnis entspricht in etwa dem einer Zweijährigen, motorisch wird sie von ihrem mittlerweile eineinhalb-jährigen Bruder deutlich überholt. 

Mit ihrem freundlichen Wesen, dem vielen Lachen, der Ruhe und Geduld, die sie ausstrahlt, ihrem wachen Blick und ihrem deutlich erkennbaren Humor, erobert sie die Herzen nicht nur ihrer Eltern und Geschwister, sie hat auch außerhalb einen regelrechten Fanclub aufgebaut. Im Kindergarten, in den ihre ältere Schwester steht, stehen die Erzieher Schlange, um sie ein wenig im Arm zu halten.

Aufgrund der Geschwister kommt sie auch viel rum. Sie ist mit den Großen am Spielplatz, kommt mit zur Mutter-Kind-Gruppe ihres kleinen Bruders und ist bei allen Besorgungen und Ausflügen mit dabei. Zudem hat sie zahlreiche eigene Termine: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie zur unterstützten Kommunikation, aber auch, um ihre Probleme beim Schlucken zu überwinden.

Natürlich haben die Probleme im Gehirn auch Folgewirkungen. Sie ist schwächlich und anfällig für Krankheiten, was von Anfang an lange Krankenhausaufenthalte erforderlich machte. Da sie Probleme beim Schlucken hat, auch wenn sie anfänglich für kurze Zeit eigenständig Nahrung aufnehmen konnte, wurde sie eine Zeit lang über eine Sonde ernährt und hat jetzt einen festen direkten Zugang zum Magen, anfangs wahlweise auch in den Darm um Magenbeschwerden besser in den Griff zu bekommen.

Ernährt wird sie fast ausschließlich über eine Spezialnahrung, die wir über eine Pumpe verabreichen – ein mehr schlecht als recht funktionierendes Gerägt, bei dem wir uns teilweise fragen, wie man in der heutigen Zeit so etwas guten Gewissens auf den Markt bringen kann. Da sie bei Krankheit teils Sauerstoff benötigt, haben wir zudem einen Monitor und das entsprechende Equipment im Haus, auch hier frage ich mich, warum man heute im Zeitalter von Handys und Tablets noch Geräte einsetzen muss, die den Charme der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts versprühen und mit unhandlichen schlecht sitzenden Kabeln versehen sind.

Trotz dieser kleinen Komplikationen ist das Mädchen äußerst sanft und unkompliziert. Sie weint so gut wie nie, hilft mit, wo sie kann, und ist für die ganze Familie Zentrum und Ruhepunkt. Gerade auch die Geschwister hängen sehr an ihr und wenn ihnen die Eltern oder andere Unannehmlichkeiten über den Kopf steigen, dann gehen sie zu ihr zum Trösten.

Mit den Besonderheiten wachsen alle auf. So war die eine recht besorgt, als sie bei einem Baby von Freunden gesehen hat, dass dieses nicht künstlich ernährt wird und hat gleich nachgefragt, was ihm denn fehle. Am schwierigsten, gerade für die Großen aber waren die vielen Krankenhausaufenthalte, die gerade die ersten Jahre das Leben sehr geprägt haben. Bei Ärzten und in Kliniken gehen unsere Kinder darum ein und aus, als ob es ihr Zuhause wäre. 

Das Thema Krankenhaus, Behandlungen bis hin auch zum Tod ist darum ein prägendes Thema, das nicht nur den Berufswunsch mitgestaltet. Ein christlicher Liedermacher, Gerhard Schöne, hat mit seinem Lied „Klein Lena war krank“ ganz wesentlich mitgeholfen, diese Erfahrungen zu verarbeiten.

Zusammenfassend können wir auf jeden Fall sagen, dass die Kleine eine unglaubliche Bereicherung für uns alle darstellt. Sie wird von uns nicht als Kranke wahrgenommen, sondern als kleines liebevolles Mädchen, das eine Freude ausstrahlt und unsre Welt in vielerlei Hinsicht erweitert. Dass es Menschen gibt, die aus Angst vor der Ungewissheit des Lebens, die uns alle früher oder später alle einholen wird, einem solchen Leben keine Chance einräumen, ist für uns völlig unverständlich. Gerade durch die Ungewissheit, dadurch, dass wir keine Erwartungen an sie knüpfen können, zeigt sie uns in aller Herzlichkeit, was Menschsein bedeuten kann. Und dass sie auch später ihren Weg machen wird, das steht für uns außer Zweifel.

Thod Verfasst von:

Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.